Ganz großes Kino erwartete die Besucher des ausverkauften Dortmunder Junkyards am Montag, denn die Church of Ra lud zur Messe und hatte dabei E-L-R und Lingua Ignota im Gepäck.
Lass Dir den Beitrag vorlesen:
Kristin Hayter verarbeitet unter dem Pseudonym Lingua Ignota genreübergreifend eine Vergangenheit, die von Missbrauch und Anorexie gezeichnet wurde. Brutale Industrial-Samples treffen auf Klavieruntermalung und eine klassisch geschulte Stimme, die immer wieder ausartet. Diese Kombination erzeugt ein onomatopoetisches Klangbild ihrer Erlebnisse und wird live durch eine Performance visualisiert, die nichts für schwache Nerven ist. Neben einem Tisch, der inmitten des Publikums aufgebaut ist und Keyboard und Laptop trägt, gehören auch 5 Lampen an langen Kabeln zu ihren Requisiten. Ein Interview läuft während ihrer gesamten Show vom Band; es handelt von einer Frau, die gefoltert und missbraucht wurde und es schaffte, ihre Peiniger umzubringen. Innerhalb des Kreises, den das Publikum um sie bildet wie eine Schar Schaulustiger, bewegt sich Hayter hektisch und aufgebracht. Sie umwickelt sich mit den Lampenkabeln, geißelt sich selbst damit, schleudert sie auf den Boden und wirbelt damit im Junkyard nicht nur mächtig Staub auf, sondern auch die Gemüter der Anwesenden. Sie singt, sie schreit, sie leidet. Es ist fesselnd zu beobachten, wie sie ihren inneren Kampf nach außen trägt und man fühlt sich fast schlecht dabei, tatenlos in diesen menschlichen Abgrund zu starren. Dementsprechend würde sich Applaus zwischen den einzelnen Stücken einfach nur falsch anfühlen. Dieser fällt im Anschluss an ihre ca. 30-minütige Darbietung dafür umso lauter und begeisterter aus. Fast so, als würde man sie dazu beglückwünschen ihre Dämonen besiegt zu haben. Ihr Angebot am Merchstand beschränkt sich auf Shirts und Longsleeves, da die EPs LET THE EVIL OF HIS OWN LIPS COVER HIM (2017, Kleinstauflage von 30 CDs) und All Bitches Die [2017, Neuauflage 2018 mit zusätzlichem Song God Gave Me No Name (Nothing Can Hide From My Flame)] bereits restlos ausverkauft sind. Der Repress ist bereits in Gange.
Deutlich entspannter geht es im Anschluss beim schweizer Trio E-L-R zu. Überwiegend instrumental bewegen sie sich stilistisch zwischen effektschwangerem Post Rock und Metal, während sich die Songs genretypisch über 6-10 Minuten erstrecken. Sie selbst beschreiben ihre Musik treffend als “hypnotic rhythms suspended in a haze of eternal reverberation”. Assoziationen zu Bands wie This Will Destroy You, Møuntain und Noir Reva werden geweckt, wenn die Songs auch nicht ganz so detailreich ausgearbeitet und vertrackt sind wie die der genannten Bands. Die ruhigeren Parts schaukeln sich zu heftigen Tremolo-Gewittern auf, ehe die Stücke dann wieder in ruhigeres Fahrwasser übergehen. Das lädt unweigerlich zum Schweifenlassen der Gedanken ein ohne zu langweilen. Die Band hat im Dezember ein 2-Song Demo namens In Splendour & Sedation auf bandcamp veröffentlicht, das auf mehr hoffen lässt. Die Kassettenauflage von 150 Stück ist unverwunderlicherweise bereits vergriffen.
Der Puls scheint jedoch insgesamt an diesem Abend zu Höherem berufen zu sein. Nachdem E-L-R ihn nach der aufwühlenden Performance Lingua Ignotas wieder auf Kurs gebracht haben, stacheln die Belgier Amenra ihn mit dem 10-Minüter .De Dodenakker. erneut an. Wuchtige, schleppende Soundwände untermauern van Eeckhouts markante Urschreie, während er sich -fast immer vom Publikum abgewandt- wie in Trance zum Takt bewegt. Er mutet mitunter wie ein Zeremonienpriester an, bereichert diese Erscheinung jedoch mit den Ausweichbewegungen eines Boxers, womit er den Großteil der Aufmerksamkeit sicherlich auf sich zieht. Fortgesetzt wird das Set mit .Razoreater. und das Publikum hat sich bis dahin bereits in eine wabernde Masse verwandelt, die gebannt auf die monochrome Szenerie schaut. Boden wird von van Eeckhout und Drummer Lebon mit dem rhytmischen Klirren von Metallrohren eingeleitet, die sie aufeinanderschlagen. Das wird zur ruhigeren Mitte des Songs nochmal aufgegriffen, bis er sich dann zum Ende hin nochmal mit Worten “but the pain remains the same” gewaltsam entlädt.
Die Band beherrscht den Wechsel von Sphärisch zu Brachial ohnehin spielend; kaum hat man sich mit den leiseren Parts versöhnt, knallt einem das nächste Brett ins Gesicht. So dann auch mit dem französischsprachigen Plus Près De Toi, dem ersten Song in der Setlist, der vom letzten Release Mass VI (VÖ 2017) stammt. Das ruhige Intro zu Diaken lässt kurz zur Vorbereitung auf das, was noch kommt für zwei Minuten innehalten und auch wenn man die Songs kennt, trifft einen der Einsatz der verzerrten Gitarren in den härteren Passagen trotzdem jedes Mal wie ein Bus. Großes Lob an dieser Stelle an den Tonmenschen, alles richtig gemacht. Ebenso projezieren die Songs durch ihre atmosphärische Schwere das besungene Leid auf die Zuhörerschaft obwohl man die geschrieenen Passagen sicherlich nicht Wort für Wort versteht. A Solitary Reign knüpft also an dem desolaten Gefühl an, mit dem einen der Vorgänger zurückgelassen hat und verstärkt es eigentlich noch, bis es vom fast gesangslosen .TerZiele.Tottedood. wieder ein Stück weit aufgelöst wird. Auf dessen abruptes Ende folgt .Am Kreuz., welches entgegen des deutschen Titels auf Englisch den Leidensweg Christi beschreibt, bzw. als autobiografische Analogie dazu verstanden werden kann. Den Abschluss der kathartischen Messe bildet das Medley Aorte / Ritual, in dessen Verlauf sich E-L-R und Lingua Ignota auf der Bühne dazugesellen um die Klimax einzuleiten und sich somit gebührend vom Publikum und auch voneinander zu verabschieden, denn Dortmund war die letzte Station ihrer gemeinsamen Tour.
Kleiner Trost: Amenra bieten im Mai jeweils in Wien und in Gent, sowie im Juli in Antwerpen die Gelegenheit, der Church of Ra erneut zu huldigen oder sich ihr anzuschließen. Schweiz(urlaub)er, die gerne in den Genuss von E-L-R kommen möchten, haben Ende des Monats sowie Mitte März in Fribourg und Olten die Chance dazu. Hayter tourt im April mit Tristan Shone alias Author & Punisher durch Europa und kann u.a. in Berlin und Antwerpen bestaunt werden. Die Wege trennen sich also nicht für lang.
Setlist AMENRA @ Dortmund, Junkyard (18.02.2019):
01. .De Dodenakker.
02. .Razoreater.
03. Boden
04. Plus Près De Toi
05. Diaken
06. A Solitary Reign
07. .TerZiele.Tottedood.
08. .Am Kreuz.
09. Aorte / Ritual