Hawaiihemden und Totenkopf Flip- Flops – Industrial unter Palmen
Ein schwülwarmer Tag Ende Oktober in der Stadt der Engel. Die berüchtigte Partyreihe „Das Bunker“ lädt zum zwanzigsten Geburtstag und die dunkle Westküstenszene versammelt sich nach mehreren grandiosen Warm- Up Konzerten heute in einem geräumigen Club am Pico Boulevard. Etwas außerhalb von Downtown, zwischen kleinen koreanischen Restaurants, mexikanischen Burritowagen und jeder Menge Halloweendekoration an den Häuserfronten schallen am späten Abend vor allem die Predigten der unzähligen spanischen Gottesdienste aus den geöffneten Türen auf die Straße. Umso argwöhnischer betrachten die Kirchgänger die düstere Menschentraube, die sich vor dem Union Club zu formieren beginnt. Ein voluminöser Tourbus versperrt schon seit Stunden die Sicht auf den Eingangsbereich und sorgt durch sein bloßes Herumstehen für den charmanten Flair von Rock’n’Roll und Welttourneen. Vorbei an der langen Schlange und den teils bewaffneten Türstehern geht es in die pechschwarz gepinselten Clubräume. Wo sonst Hip Hop Beats dominieren, tummelt sich an diesem Wochenende die typische Mischpoke aus Cyberfreaks, 80er Enthusiasten und avantgardistisch gekleideten Industrialfreunden. Das Bild unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von dem heimischer Festivals- auf den Zweiten allerdings schon, es ist statischer. Wildes Tanzen, Mitschunkeln und das stoische Kopfnicken der letzten Reihen weicht hier einer Art Trancepublikum- das hingebungsvoll die Bands auf den zappendusteren Bühnen fokussiert. Ein paar Tänzer, vor allem vor der bestialisch lauten Noisestage brechen mit dieser kinoartigen Atmosphäre, aber Ausrasten bleibt für die meisten ein Fremdwort. Wofür man fast dankbar sein muss, denn auch ohne schwitzende Leiber beträgt die Raumtemperatur bereits gefühlte 40 Grad. Hört man sich um, so fallen immer wieder anerkennende Worte über die deutsche Industrialszene und unsere riesigen Festivals. Der amerikanische Musikfan wähnt schmeichelhafterweise das Herz der Subkultur in der alten Welt, nicht in dieser Metropole am Pazifischen Ozean, die Trent Reznor und so viele andere Genregrößen beheimatet.
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Ein falscher Artikel wird zum Markenzeichen
Neben einigen deutsch klingenden Bandnamen lässt sich in der gesamten Aufmachung des Festivals eine ausgeprägte Germanophilie erkennen- über allem Artwork thront der Bundesadler und unsere Armeeklamotten sind ein gern getragenes Accessoire. Auch die Frage nach dem falschen Artikel im Namen der Veranstaltungsreihe klärt sich rasch- ein Franzose erfand vor vielen Jahren den wohlklingenden Namen „Das Bunker“ und heute erweist sich der eingeschlichene Fehler als durchaus vorteilhaft bei der Suchmaschinenoptimierung. Über so viel Plauderei, Lokalkolorit und Anstehen am Merchstand sind bereits die ersten Acts vergangen und auf der Main Stage bringt die Einmannkombo Author & Punisher mit experimentellem Industrial Doom und Drone Metal ihre Version der erotischen Interaktion zwischen Mensch und Maschine unters Volk, während nebenan iVardensphere: Singularity mit seinem elektrisierenden Improvisationstalent begeistert. Tactical Sekt hauen direkt im Anschluss den zahlreichen Fans ihr bitterböses Gewummer um die Ohren, hier und dort löst sich nun ein Zuschauer aus der anfänglichen Trance und hüpft erregt zwischen Dutzenden in die Luft ragenden Handykameras auf und ab. Als nächstes geht es rüber zu High-Functioning Flesh, hier werden wir Zeuge der maximal ungewöhnlichen Kostümierung, denn sie performen ihren aufrüttelnden Electro-Punk in Blue Jeans und einem Blumenhemd, an dem Jürgen von der Lippe Gefallen gefunden hätte. Eine Insel des sonnigen kalifornischen Gemüts inmitten all diesen Gruftitums. Sie bescheren uns brandneue Songs, wilde Beats und jede Menge 80er Nostalgie untermalt von Joe Cockereskem Ausdruckstanz und sorgen so für eine gelungene Abwechslung vom düsterem Treiben in den anderen Hallen. Dieser Kontrast zwischen dem dunklen Lifestyle und der hiesigen Surfermentalität findet sich auch beim Blick auf den Hallenboden, zwischen schweren Armyboots und lackfarbenen Pfennigabsätzen stapfen ein paar schwarze Flip-Flops mit kleinen Tötenköpfen und Schleifchen im Takt der Musik.
Im ständigen Wechsel zwischen den drei Areas verstreicht langsam die Nacht und schon beginnt Daniel Graves mit seinem Nebenprojekt Necessary Response. In ungewohnt legerer Joggingplinte und mit etwas kieksiger Stimme unterscheidet sich diese Darbietung vom direkt anschließenden Aesthetic Perfection Gig, der Sound bleibt leider durchgehend mies aber Graves ´ Frontsauqualitäten machen seine Auftritte trotzdem zu einem kurzweiligen Vergnügen und seine eingeschworene Fangemeinde sieht ihm alles nach, auch den Umstand, dass er sich während der Konzerte fast durchgehend selbst in dem großen Spiegel betrachtet, der am Seitenrand der Halle hängt. Höhepunkt des Abends sind VNV Nation, die der deutsche Festivalgänger zwar schon deutlich zu oft gesehen hat, deren Performance aber auch immer wieder ein Genuss ist. Sie spielen einige alte Raritäten und ihre sanften, melodischen Klänge und schönen Visuals tragen uns dem Ende der Nacht entgegen und werden dank des Jetlags zu einem entzückenden Schlaflied. Kurz nach den Zugaben wird also müdigkeitsbedingt flugs ins Hostelzimmer geubert, dort wartet noch eine enervierende Mischung aus Dauertelefonierern und Gästen mit gruseliger Schlafapnoe. Ein Königreich für ein Einzelzimmer.
Ein kleines Stück Strand haben wir beim Amphi schließlich auch
Der Sonntag und damit der letzte Festivaltag beginnt wieder erbarmungslos sonnig und mit einem herrlichen Blick auf das Hollywoodzeichen in den diesigen, versmogten Bergen am Horizont dieser unwirklichen Stadt. Die palmengesäumten Straßen und die kilometerweiten, menschenleeren Sandstrände wirken wie eine surreale Kulisse und trotzdem fühlt es sich dank des gewohnten Festivalalltags ein bisschen wie Heimat an. Ein kleines Stück Strand haben wir beim Amphi schließlich auch. Die Noisestage bietet an diesem Tag eine herrlich absurde Mischung feinsten Kraches und die Kostümierungen sind so einfach wie effektvoll, besonders faszinierend ist Alexandra Atnif in ihrer gesichtslosen, puppenhaften Aufmachung, mit der sie vom Fleck weg ihren eigenen Horrorfilm drehen könnte. Ihren noisigen Industrial Techno nennt die Musikerin aus Bukarest selbst „Rhythmic Brutalism“, in Kombination mit ihren zombieesken Bewegungen und verstörenden Visuals entsteht eine schaurig-schöne Atmosphäre, die einen mit ihrer suggestiven Poesie schnell gefangen nimmt.
Obwohl die Künstler der Noise Stage denkbar wenig Spielraum haben, ein winziges Podest und ein paar Regler zum Dranherumschrauben, schaffen sie es doch, uns alle in ihren Bann zu ziehen- sei es mit samuraiartiger Verkleidung und autistischem Wippen oder Tanzeinlagen, die nach einem Exorzisten verlangen. Etwas zurückhaltender aber nicht minder großartig kommt WMX daher, ein unauffälliger schüchterner Bub, der hinter seinem Equipment aufblüht und seine Zuschauer mit krachigen, tanzbaren Klangexperimenten in die Weiten des amerikanischen oldschool Power Noise entführt. Heute fliegen einem in dem kleinen Raum auch ausnahmsweise nicht die Ohren weg- das Trommelfell bedankt sich. Schafft man es sich einmal von dieser wunderbaren Bühne loszueisen, verführen einen nebenan KANGA mit lieblich-mädchenhaftem Gesang à la Birthday Massacre oder Garbage. Ihre Darbietung ist voller Sexappeal und Extrovertiertheit und einige der Lieder wie Vital Signs haben durchaus Ohrwurmpotenzial. Von den beiden Heavy Poppern werden wir sicher noch hören. Gleich danach heizen uns die Berserker von Caustic ein- wenn auch nicht mehr blutjung, strotzen sie doch vor Kraft und schreien sich gekonnt die Seele aus dem Leib, begleitet von äußerst tanzbaren, treibenden Beats machen die Jungs ordentlich Druck und ziehen der Main Stage einiges an Zuschauern ab- dort spielen nach einem soliden, etwas ruhigen Auftritt von Assemblage 23 nun die Legendary Pink Dots auf, hier geht es deutlich entspannter zu als nebenan und eine treue Fangemeinde hat sich eingefunden, der man anmerkt, dass die psychedelischen Rocker zu ihren alten Helden gehören. Als schlussendlich Covenant diesen ziemlich harmonischen, gediegenen Abend auf der Main Stage ausklingen lassen, ist die Stimmung zum Feuerzeug in die Luft recken, leider ist 2016 und stattdessen wird ein Meer von Handydisplays geschwungen. Covenant wirken auf der stockfinsteren Bühne auch ohne Haupthaar gewohnt ätherisch und verzaubern ihr Publikum auf charmanteste Art und Weise. Ein bisschen mehr Bühnenbeleuchtung hätten sich aber nicht nur die Fotografen gewünscht, zeitweise gleicht der Auftritt einem obskuren Schattentheater und man kann nur erahnen, wo auf der Bühne sich der ein oder andere Schwede befindet. So fällt es auch weniger auf, dass gar nicht allen Bandmitgliedern die Einreise genehmigt wurde- die vermaledeiten Visabestimmungen fordern ihren Tribut.
Die düsteren kalifornischen Musikfreunde liegen sich am Ende der Nacht brüderlich in den Armen, begeistert von dem zurückliegenden Konzertmarathon, der schon am Donnerstag mit IAMX begann und hier sein fulminantes Ende findet. Die allgegenwärtigen, kunstvollen Neon-Leuchtreklamen weisen den Weg zurück durch die ausgestorbenen Straßen der Millionenmetropole, links und rechts sind die Bürgersteige gesäumt von den abgenutzen Zelten der unzähligen Obdachlosen, die davor sitzen und sich mit gedämpften Stimmen unterhalten. In dieser atemlosen Stadt prallen so viele Welten aufeinander und unsere kleine Subkultur ist eine davon. Egal wohin wir reisen, es gibt ein paar Menschen dort, die unseren Musikgeschmack teilen, für den selben Krach schwärmen und nichts verwerfliches daran sehen, wenn das Ausgehoutfit nur aus etwas schwarzem Klebeband besteht oder stachelige Schweißerbrillen beinhaltet. Und so fühlen wir uns mit unseren Sonderbarkeiten schnell angekommen und am richtigen Ort, selbst wenn zwischen uns und der Heimat mehr als neuntausend Kilometer und verflucht lange Flüge liegen. Aber das Gefühl nach einem langen Festivalwochenende ist überall auf der Welt unvermeidbar und ewig gleich- staubig, übermüdet, glückselig und mit einem Restklingeln in den Ohren.